1974 war ich nämlich in Garland, Texas, an einem Test mit einem Colt .45 Single Action Army aus dem Jahr 1899 und Munition der Union Metallic Cartridge Company von 1905 mitbeteiligt. Die Patronen wurden zuvor restauriert, indem man die Geschosse herauszog und neu fettete, weil das Originalfett verhärtet war und die ursprüngliche Präzision vermindert hätte. Die Original-Schwarzpulverladungen in den Patronen wurden ersetzt und die neugefetteten Geschosse wieder in der ursprünglichen Tiefe eingesetzt. Der Revolver wurde in eine Einschießmaschine eingespannt, und es wurden 25 Schuss auf ca. 20 Yards Distanz auf eine Papierzielscheibe abgegeben. Das Schussbild wies 5-Schuss-Streukreise von durchschnittlich 12,2 cm auf.
Der Revolver befand sich in tadellosem Zustand, der Fehler konnte also nicht hier liegen, und die Munition war vermutlich eher noch genauer als im Originalzustand. Anschließend wurde mit dem selben Revolver moderne Munition verschossen, worauf der Streukreis auf weniger als 5 cm zusammenschrumpfte. Schließlich wurden die verbleibenden 25 Schuss Munition von 1905 aus einer modernen Faustfeuerwaffe verschossen, und auch hier war der Streukreis merklich enger.
Daraus ergibt sich folgendes: Ein Revolverheld oder Sheriff, der quer durch einen Saloon oder über eine staubige Straße hinweg auf einen Mann schießt, wird sich über die Streuung wie die oben erwähnte kaum Gedanken machen. Wenn aber einer eine Flasche entkorken will, indem er auf den Flaschenhals schießt, oder jemandem die Zigarette aus dem Mund schießen will, wird ihm das bestimmt etwas ausmachen.
Die Büchsen waren im allgemeinen etwas präziser, aber wenn man bedenkt, dass das übliche Ziel ein Mensch oder noch Größeres war, spielte ein bißchen Streuung wohl kaum eine große Rolle.
Die Trickschützen des 19. Jahrhunderts – darunter Annie Oakley und Frank Butler – benützten meist Waffen mit glatten Läufen und Luftgewehrmunition, oder für Präzisionsarbeit Sportgewehre im Kaliber .22 mit Matchmunition. Mit einem Gewehr im Kaliber .22 schoss Annie Oakley auch dem künftigen Kaiser Wilhelm eine Zigarette aus dem Mund, doch das tat sie nur widerstrebend und auf sein Drängen hin, weil sie wußte, dass die kleinste Unregelmäßigkeit in der Munition sie zu der Frau machen konnte, die dem deutschen Kronprinzen die Nase abgeschossen hatte.
„Jemandem die Zigarette aus dem Mund schießen“ war eigentlich ein Variété-Trick. Die „Zigarette“ war ein hohles Röhrchen mit ganz wenig Tabak am einen Ende. Das „Opfer“ war ein Mitglied der Truppe, das unters Publikum geschmuggelt wurde. Er trug die vorbereitete Zigarette stets bei sich. Vor dem Publikum drehte er sich ostentativ eine Zigarette, ließ sie verschwinden und ersetzte sie durch die Trickzigarette. Dann bezog er Position und zündete sich die „Zigarette“ an, wobei er darauf achtete, nicht mehr als einen Zug zu nehmen, damit der Tabak nicht ganz verbrannte. Nun schoss der Schütze eine Platzpatrone ab, und zwar so, dass weder der Pfropfen noch das Mündungsfeuer den Raucher berühren konnte. Gleichzeitig blies der Mann ins Röhrchen, so dass Asche und Tabak vorne herausgepustet wurden, nahm dann das Röhrchen blitzschnell aus dem Mund und zertrat es. Das Ergebnis war spektakulär – Asche und Tabak über die ganze Bühne verstreut! – und war sehr viel weniger riskant als die echte Kunstschützenleistung.
Bildquelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Colt_Single_Action_Army
Quelle: https://cernunninsel.wordpress.com/2014/04/06/die-waffen-der-revolverhelden-des-wilden-westens/?fbclid=IwAR0rSQzUFOw6oY7RyF9CDvii1TRUMwS7B-ZeWOGQkFyNlx33ToZTfuH-n7g